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ZF bringt Luftfahrttechnik auf die Straße: Lenken und bremsen wie im Flugzeug

6ZF bringt Luftfahrttechnik auf die Straße: Lenken und bremsen wie im Flugzeug
Die Steer-by-Wire-Lenkung des Nio ET9 stammt von ZF. Photo: Reinking via Autoren-Union Mobilität

Willig folgt der Nio ET9 dem Lenkeinschlag. Im Schritttempo lenkt er sich leicht und dennoch direkt. Etwas über eine halbe Umdrehung reicht, und die Fließhecklimousine biegt rechtwinklig ab. Auf der Teststrecke dann ein ganz anderes Bild: Wie auf Schienen wechselt der Nio die Spur. Der oben und unten stark abgeflachte Lenkradkranz erinnert eher an eine Spielekonsole. Und so weit hergeholt ist der Vergleich gar nicht: Ähnlich wie bei einer X-Box oder Playstation ist das Lenkrad des ET9 nur noch digital mit dem Fahrzeug verknüpft. Es gibt keine Achse mehr zum Lenkgetriebe. Steer-by-Wire heißt diese Technologie des Zulieferers ZF Friedrichshafen, die hier erstmals in einem Serienauto zum Einsatz kommt.

Dass der chinesische Autohersteller Nio zuerst zugegriffen hat, um die neue Technik an Vorder- und Hinterachse einzusetzen, ist bezeichnend: „China ist unser Fitnessstudio“, sagt Peter Holdmann, im ZF-Vorstand verantwortlich für die Pkw-Fahrwerkstechnik. Um mit der Entwicklungsgeschwindigkeit chinesischer Hersteller mithalten zu können, muss sich ZF gehörig ins Zeug legen. Aber die deutsche Konkurrenz ist nicht weit zurück: Einen weiteren Lieferauftrag konnte ZF von Mercedes-Benz gewinnen. Die Serienproduktion startet dort im nächsten Jahr. Zwei weitere chinesische Hersteller stehen ebenfalls in den Startlöchern.



Steer-by-Wire ist eine der neuen Funktionen, die aus einem Auto ein Smartphone auf Rädern machen sollen. Eine andere ist Brake-by-Wire – das Bremsen mit einem System, ohne mechanische Verbindung zwischen Pedal und Bremsen. Hier entscheidet künftig die Software, wie Bremse und Lenkung reagieren. Computerprogramme definieren das Fahrverhalten von Autos, die damit zu Software-Defined Vehicle (SDV) werden.



Auch Brake-by-Wire steht kurz vor dem Serieneinsatz: Ein US-Hersteller wird das System zunächst bei den Hinterradbremsen einsetzen. Es gibt keine mechanische Verbindung mehr zwischen dem Bremspedal und den Bremsen an den Rädern, zum Beispiel über eine Hydraulikleitung. Per Draht (Wire) wird der Bremsbefehl an die Räder übertragen und dort entweder hydraulisch oder nur noch elektrisch ausgeführt. Das ist in der Produktion günstiger, aber dabei nicht weniger sicher, als die alte Hydraulikbremse. Die „by-Wire“-Technologie stammt eigentlich aus der Luftfahrt, wo Fly-by-Wire längst Standard ist. Und wie im Flugzeug gibt es zwei unabhängige Systeme mit eigener Stromversorgung und Verkabelung. Sogar zwei Batterien sind vorgesehen. Fällt ein System aus, kann das Fahrzeug weiter gelenkt und gebremst werden.



Einer der größten Vorteile solcher Systeme ist aber deren Update-Fähigkeit: Die Software wird ständig verbessert. Auch neue Funktionen können via Update auf das Fahrzeug übertragen werden. Eine unabdingbare Voraussetzung für automatisiertes Fahren.



Im Fahrwerksbereich sieht sich ZF als Technologieführer. Chassis 2.0 nennen die Friedrichshafener das Technikpaket rund um das drahtgelenkte und -gebremste Auto. Die Technologie ermöglicht nicht nur Designern ganz neue Freiheiten. Lenkrad und Bremspedal können praktisch überall platziert werden.



Auch bei Dämpfung und Federung gibt es neue Entwicklungen: Der aktuelle Porsche Taycan ist mit den aktiven Dämpfern S-Motion von ZF ausgestattet. Sie sind an eine Hydraulikpumpe angeschlossen, die das Fahrzeug in einer halben Sekunde um 80 Millimeter anheben kann. Öffnet der Fahrer die Tür, kommt ihm der Porsche etwas entgegen, um den Einstieg zu erleichtern.



Das System ist bereits in Serie und hat auch dynamisch seine Vorteile: Fahrbahnunebenheiten werden trotz des auf Sportlichkeit abgestimmten Fahrwerks weggebügelt als seien sie nicht vorhanden. In Kurven einlenken, bremsen und beschleunigen bringen die Karosserie des Fahrzeugs nicht aus der Ruhe. Der Wagen liegt wie das sprichwörtliche Brett, ohne auf Komfort verzichten müssen.



Wie wichtig das Zusammenspiel zwischen Hard- und Software ist, zeigt auch das Beispiel Smart Chassis Sensor: Mit wenigen Handgriffen ist die Radmutter an dem Sport SUV gelockert und eine weitere entfernt. Nur noch drei Schrauben halten jetzt das Rad am Fahrzeug. So sollte man normalerweise nicht losfahren. Doch bei diesem Lotus Eletre überwacht ein kleiner Sensor am Längslenker ständig die Bewegungen des Rades und erkennt so, wenn zum Beispiel eine Radmutter fehlt. So kann das System auch feststellen, ob nach dem Überfahren eines eines Hindernis Rad oder Fahrwerk beschädigt sind. Damit gibt der kleine Sensor dem Fahrer eine bisher nicht gekannte Sicherheit über den Zustand seines Fahrzeugs.



Dass es die ZF-Ingenieure auch mechanisch noch drauf haben, zeigen sie mit ihrem Easy-Turn-Lenksystem. Es ermöglicht einen Lenkeinschlag von bis zu 80 Grad. Ein VW ID Buzz hat damit den Wendekreis eines Fiat 500. Alles was ZF dazu brauchte, war ein zusätzlicher Lenker an der Vorderachse.



Bis zum Ende des Jahrzehnts will ZF 4,8 Milliarden Euro Umsatz mit dem Chassis 2.0 generieren. Holdmann: „Das wird unser Wachstumsbooster.“ (aum)

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