200 Jahre Fahrrad: Teil 4 - Die Freaks unter den Bikes

Die Geschichte des Fahrrads ist auch die Geschichte von zahllosen Kuriositäten. Ob technische Sackgasse oder verrückter Spieltrieb bastelwütiger Ingenieure - in den vergangenen 200 Jahren wurden viele durchgeknallte Velo-Typen auf die Straße entlassen. Hier ein paar Beispiele.

Zu den aus heutiger Sicht kurios anmutenden Entwürfen der Fahrradgeschichte zählt unter anderem die Mutter aller Velos: das Laufrad. Das von Karl Freiherr von Drais 1817 erdachte Gefährt bringt viele Betrachter auch deshalb innerlich zum Schmunzeln, weil auf zeitgenössischen Abbildungen meist vornehm gekleidete Herren in stolzer Pose auf den historischen Laufrädern thronen. Aus heutiger Sicht wirkt dieser ernste Eifer, ... nun ja ..., irgendwie kindisch, denn Laufräder sind heutzutage eigentlich nur bei den ganz Kleinen ein großer Hit. Dem Nachwuchs dient das Laufrad meist als Lernhilfe, um mit dem Element Fahrrad warm zu werden. Vor 200 Jahren war das Laufrad hingegen ein teures Spielzeug für Adelige, die sich damit in Schlossparks verlustierten und, auf immerhin friedlichen Weise, auch duellierten.
 
Der nächste große Schritt in der Geschichte des Rades war der Entwicklungssprung vom Laufrad zum Veloziped. In den 1860er-Jahren kamen die ersten pedalgetriebenen Räder auf. Diesen folgten nach nur wenigen Jahren Konstruktionen, bei denen die Vorderräder immer größer wurden. Der Grund: Je größer das pedalgetriebene Rad, desto schneller konnte man fahren. Diese Entwicklung führte allerdings zu bizarren Größenrelationen und gefährlichen Stürzen. Deshalb kamen nur wenige Jahre später nicht minder bizarre Sicherheitsniederräder auf, bei denen dann das Hinterrad riesig und das Vorderrad klein war. Es gab sogar Konstruktionen mit zwei Riesenrädern, wie etwa ein in den 1880er-Jahren von der in Birmingham ansässigen Firma Hercules gebautes Hochrad-Tandem Rucker.
 
Apropos Tandem: Im Lauf der Fahrradgeschichte setzten viele Konstruktionen auf einen Antrieb mit mehr als zwei Beinen. Der Vorteil: doppelte Kraft bei gleicher Stirnfläche. Die Geschichte der Tandems hat ebenfalls einige abenteuerliche Auswüchse hervorgebracht. Recht harmlos waren noch Tridems, doch Opel baute zum Beispiel Ende des 19. Jahrhunderts das Quintulep für fünf Radler, später entstanden auch Familien-Tandems für sechs, sieben oder gar acht Personen. 2002 wurde übrigens in Holland das bislang längste Tandem der Welt auf die Räder gestellt, bei dem allerdings nur zwei Personen ein über 28 Meter langes 400 Kilogramm schweres Fahrrad bewegen mussten.
 
Ebenfalls für den Mehrpersonenbetrieb gemacht sind sogenannte Conference-Bikes, bei denen die bis zu sieben Mitfahrer allerdings sternförmig um die Mitte angeordnet sitzen. Ein besonderer Vorteil dieser Konstruktion ist nicht zu erkennen, doch fördert die Sitzanordnung die Geselligkeit, weshalb diese CoBis gerne von Firmen für Teambuilding-Events genutzt. Ebenfalls für ein Maximum an Geselligkeit sorgen die seit vielen Jahren beliebten Bier- oder Thekenbikes. Auf diesen verteilt sich eine meist vielköpfige und in der Regel auch besonders durstige Truppe auf zwei Reihen, um fortan das mahnende Motto ,,Don't drink and drive" konsequent zu ignorieren.
 
Fast schon wie aus einer Bierlaune entstanden wirkt das Bonanza-Rad, das ab Ende der 1960er-Jahre die Fahrradjugend hierzulande in seinen Bann zog. Inspiriert war das auch heute noch von einigen Fans kultig verehrte Kinderrad von Chopper-Umbauten der Motorradszene. Direktes Vorbild für das deutsche Bonanza-Rad war ein gechopptes Fahrrad namens Stingray, das mit Bananensattel, hohem Apehanger-Lenker und langer Gabel Mitte der 1960er-Jahre in den USA für Furore und große Absatzzahlen sorgte. Wenige Jahre später wurde dieses Konzept in abgewandelter Form auch für den deutschen Markt adaptiert. Besonders erfolgreich war die von Neckermann unter dem Namen Bonanza-Rad angebotene Variante. Andere Modelle hörten auf Namen wie Polo-Rad oder High-Riser. Um richtig cool zu sein, mussten Bonanza-Räder allerdings noch ein paar wichtige Ausstattungsdetails bieten. Dazu gehörte vor allem eine Dreigangschaltung mit Pkw-artiger Schaltkulisse. Aber auch Fuchsschwanz, Rückspiegel, zweifarbige Bremszug-Umwicklungen und buntes Gedöns in den Speichen verliehen den eigentlich sehr unpraktischen Gefährten den letzten Schliff.
 
Das Stingray-Rad und artverwandte Konstruktionen verdrängten in den USA übrigens die zuvor noch beliebten Cruiser oder Beachcruiser. Dieses Fahrradprinzip zeichnete sich durch einen geschwungenen und zugleich getreckten Rahmen, Ballonreifen und einem breiten Lenker aus, was dem Fahrer eine entspannte und aufrechte Sitzhaltung erlaubte. In der jüngeren Vergangenheit sind Beachcruiser und vor allem stark gechoppte Spielarten wieder in Mode gekommen. Dabei wurden die Umbauten immer abenteuerlicher, die Rahmen flacher und gestreckter. Meist ähneln sie im Stil Custom-Motorrädern. Eine extreme Variante sind die Lowrider, die sich nur noch bedingt zum Fahren eignen, aber mit viel Chrom, Auspuff- sowie Tankattrappen, Stoßstangen und aufwendigen Lackierungen immerhin viel Aufsehen erzeugen.
 
Ebenfalls für Aufsehen sorgte 1982 auf der IFMA das erstmalig vorgestellte Comfortable vom deutschen Hersteller Sprick. Der futuristisch gestaltete Blickfänger wurde unter anderem über die Metro-Gruppe als Active Comfort für damals durchaus stattliche 399 D-Mark vertrieben. Anders als beim klassischen Diamantrahmen, der zumeist aus sechs Rohrelementen zusammengeschweißt wird, besteht der geschwungene Unisex-Rahmen des Comfortable aus nur einem Doppelrohr, das vielfach gebogen wurde. Zu den weiteren Besonderheiten zählen der einem Flugzeugsteuer ähnelnde rechteckige Plastiklenker mit zentralen Tacho, Kunststofffelgen für Schlauchlos-Reifen, ein ausklappbarer Abstandshalter und eine abschließbare Gepäckbox. Irgendwie sollte der City-Cruiser damit das Prinzip Fahrrad in die zusehends digitaler werdende Moderne transportieren, doch schon wenige Jahre nach dem Marktstart wirkte der gewagte Entwurf überholt. Heute werden immer mal wieder Exemplare auf Ebay meist als kultiges Colani-Rad angeboten. So richtig korrekt ist diese Vermarktung allerdings nicht. Zwar bietet das Comfotable ein auffälliges Design, doch dieses stammt aus der Feder von Odo Klose. Völlig unberechtigt ist die Colani-Referenz dennoch nicht, denn immerhin der Union-Frontscheinwerfer wurde von dem Schweizer Stardesigner entworfen.

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