Pure and Crafted-Festiva - Kult um's Customizing

Die Premiere des Pure & Crafted-Festivals im alten Berliner Postbahnhof brachte Motorräder, Musik und New-Heritage-Lifestyle erfolgreich zusammen. Nicht zuletzt zum Nutzen von BMW.

Sie heißen Kradwahn, Motor Circus oder Kistenfabrik. Die Namen dieser kleinen Firmen dürfen durchaus als Programm gelten, handelt es sich bei ihren zweirädrigen Kreationen doch um Motorräder, die bei Unbeteiligten anfangs häufig Kopfschütteln auslösen. Kein Kotflügel hält aufspritzendes Wasser vom zumeist nur in Denim gewandeten Fahrer fern, eine Federung ist oftmals erst auf den dritten Blick erkennbar. Für größere Touren sind diese Fahrzeuge ungefähr so gut geeignet wie das im Sommer 1971 auf dem Mond in Betrieb genommene Lunar Roving Vehicle für einen Trip auf der deutschen Autobahn. Seit einigen Jahren liegen solche Zweirad-Umbauten - zumeist auf Basis älterer BMWs, Triumphs und Yamahas - voll im Trend.

Während der Kult ums Customizing lange in versteckt gelegenen Garagen und Werkstätten vor sich hin keimte, blüht er seit zwei Jahren auch industriell auf: Insbesondere BMW, Ducati und Yamaha animieren seither auch die Käufer bestimmter Neumodelle, diese zu individualisieren. Zusammengeführt wurden die verschiedenen Stränge des sogenannten New-Heritage-Lifestyle in Form eines Festivals erstmals am vergangenen Wochenende in Berlin beim Pure & Crafted-Festival, das im einstigen Berliner Postbahnhof stattfand; er war vor über 100 Jahren errichtet worden und diente nun als perfekte Kulisse für Lebenskünstler, Musikfans und Gaskranke. Insbesondere der Top-Act ,,The Hives" ließ die Lifestyler ausflippen.

Erkennbar sind die männlichen Anhänger des New-Heritage-Lifestyle-Trends an Hemden im Holzfäller-Design, kräftigen Handmade-Boots, markanter Gesichtsbehaarung und großflächig montierten Tattoos. Die Damen ersetzen die groben Hemden durch feineres Tuch und verschmähen auch künstliche Gesichtsbehaarung, legen dafür aber oftmals in punkto Piercing und Tattoos noch ordentlich eins drauf. Es sind durchaus auffällige Gestalten, die sich am Freitag und Samstag durch die ausgedehnten Räumlichkeiten des alten Berliner Postbahnhofs bewegten. Im General-Store, der einstigen Packhalle des Postbahnhofs, tauschte man sich bei deftiger Street-Cuisine, Gin Tonics, der professionellen Bartpflege über Handwerkskunst, Pinstriping oder Lifestyles aus. 15 handverlesene Aussteller präsentierten im Außenbereich auf der Wheels-Area ihre meist bejahrten Zweirad-Kunstwerke.

Zwar sind New-Heritage-Lifestyle (NHL) und Kradwahn nicht deckungsgleich, wer sich aber für ein Fahrzeug aus dem - beispielsweise - Motor Circus begeistern kann, weist eine extrem hohe Affinität zum NHL auf. Experten schätzen, dass etwa ein Viertel bis ein Drittel der insgesamt etwa 7.000 Besucher des ersten Pure & Crafted-Festivals Stimulation für ihre mittelschwere bis schweren Krad-Infektion suchten. ,,Das ist doch cool", freute sich BMW-Marketingboss Ralf Rodepeter, stilecht gewandet, im Verein mit Pressemann Tim Diehl-Thiele, der mit unübersehbaren Haut-Gravuren unter den Tausenden ebenfalls kaum auffiel. Man arbeitet bei den bayerischen Motorrad-Spezialisten, die als Sponsor des Festivals auftraten, längst daran, auch diese Schiene jenseits des konventionellen Tourenfahrens und des Rennfahrens kräftig zu entwickeln. Noch heuer ist aus München ein boxendes Scrambler-Modell zu erwarten, auch ein Café Racer mit Boxermotor ist in der Modellneuheiten-Pipeline.

In Berlin bewegten sich nur die Räder von zwei alten Indians und einer Honda 200 aus den frühen Siebziger Jahren. Und zwar an der senkrechten Wand des Schaustellergeschäftes Motodrom, auch bekannt als ,,Todeswand". Donald Ganslmeier aus München hat die bereits 1928 erbaute Schausteller-Attraktion in den letzten Jahren wieder auf Vordermann gebracht; in der hölzernen Trommel mit 16 Metern Durchmesser fahren er und zwei Kollegen sogar zu dritt  nebeneinander her. Für die Trommel, 1931 in Berlin erbaut und letztmals dort vor 82 Jahren zu sehen, war die Vorstellung im Postbahnhof der letzte Einsatz: Ganslmeier hat ein neues Exemplar bauen lassen, mit dem er künftig durch die Lande touren wird. Ihr erster Einsatz wird demnächst auf dem Münchner Oktoberfest stattfinden. Donald Ganslmeier ist mit seinen im Motodrom brüllenden Indian-Motorrädern aus den 1920er Jahren quasi der Prototyp eines Mitglieds des New-Heritage-Lifestyles. Womit sich der Kreis perfekt schließt.

auch in MOTORRAD

Anzeige

Videos